»Zwickt es mal, dann ist es halt das Alter, fertig, aus!«
Auf ihrem Balkon würde Naturfreunden das Herz aufgehen – hier flattert und zwitschert es. Walburga Kienle redet von einem Paradies und meint ihr neues Zuhause am Warenbach.
»Ich bin Naturfreund. Scharenweise besuchen alle möglichen Singvögel das Futterhäuschen. Amseln haben ihren Extraplatz und bekommen täglich eine Portion Rosinen. Mein Mann starb 2020 nur vier Tage nach seinem 80. Geburtstag. Genau an dem Tag, an dem die große Familienfeier geplant war. Er war der fitteste Mensch und dann kam alles auf einmal. In dieser Zeit bin ich durch einen unglücklichen Zufall gestürzt. Das Ergebnis war ein gebrochener Beckenring. Vier Schrauben mussten im Kreuzbein verankert werden, das seither steif ist und mir Schmerzen bereitet. Ein Leben in Haus und Garten wurde für mich zu beschwerlich. Unsere Tochter machte den Vorschlag, zu ihnen nach Fürth zu ziehen. Das war lieb gemeint, trotzdem lehnte ich ab, weil ich nicht in einer fremden Stadt von den beiden abhängig sein wollte. Ich dachte an meine Mutter. Als sehr später Nachzügler erlebte ich eher eine Großeltern-Enkel-Beziehung zu meinen Eltern. Als Vater starb, blieb sie bei mir. Das war eine Belastung, sie hatte feste Prinzipien. Dazu gehörte pünktliches Mittagessen um 12 Uhr. Ausnahmen gab es nicht. Meine beiden Enkeltöchter sind Ärztinnen, eine wohnt in Konstanz. Jeden Monat fahre ich mit dem Zug zu ihr.
Es war Glückssache, dass ich in meiner schweren Zeit diese Wohnung im betreuten Wohnen bekam und die meisten Möbel mitnehmen konnte. Beim Einkaufen spürte ich, dass mir das Schieben eines Einkaufswagens gut tut. Ich legte mir einen Rollator zu und stellte ihn hoch ein, sodass ich aufrecht damit gehen kann. Das entlastet mich und ermöglicht mir tägliche Spaziergänge in die Natur oder in die Stadt. Bei Arztbesuchen versuche ich zumindest eine Strecke zu laufen und eine mit dem Bus zu fahren. Mein Weg vom Goldenbühl bis nach Hause ohne Pause ist schon ein Stück.
»Bewegung an frischer Luft ist mein Balsam
Mein Mann und ich waren Naturmenschen. Am Meer liegen war für uns nichts. Wir machten Radtouren in Deutschland oder waren in den Bergen zum Wandern. Abends saßen wir bei Einheimischen am Stammtisch und horchten sie nach den schönsten Strecken aus. Trotz körperlicher Anstrengung war das immer Erholung pur. Unsere zweite Heimat war das Montafon. Das ist heute noch mein Sehnsuchtsort. Ich war glücklich, dass meine Freundin mit mir gemeinsam jetzt dahin gefahren ist.
Mein Vater hatte Lebensmut. Er kam aus dem Krieg, war halbseitig gelähmt und bewegte sich mit zwei Krücken. Um für die Familie etwas zu tun, grub er den Garten um. Mit dem gesunden Bein bediente er den Spaten und das kranke Bein wurde auf den Krücken abgestützt. Dabei trainierte er auch seine Beinmuskeln. Das Ergebnis war, dass er ohne Krücken laufen konnte und nur noch ein Bein etwas hinterher zog. Sein Spruch war: Ich muss, ich will. Eine Portion Lebensmut habe ich wohl von ihm abbekommen.
Zum Glück bin ich nervlich stabil und gehe vom Positiven aus. Das kam mir auch im Berufsleben als Buchhalterin zu Gute. Zuletzt war ich bei einem Konkursverwalter. Das war anstrengend. Mein größter Auftrag war ein Konkursbericht mit 1600 Seiten mit jeweils 50 Positionen. Mir hat das Spaß gemacht. Schon in der Schule war Deutsch nicht meins. Aber alles, was mit Zahlen zu tun hatte, war meine Welt, heute noch.
Ich bin gern unter Leuten. Mein Schwager wohnt hier im Haus. Einmal in der Woche treffen wir uns, trinken Kaffee und vespern. Alle zwei Wochen kommt meine Freundin zu einem ausgiebigen Frühstück zu mir. Und wie in unserem Nachbarhaus findet auch für unsere Bewohner wöchentlich ein kostenloses Frühstück statt. Ich habe die Organisation übernommen und dekoriere einen Tag vorher die Tische. Getränke, Zopf, Brezeln und Belag spendiert die Heimleitung. Hat jemand Geburtstag, lasse ich mir was Besonderes einfallen. Beim Abräumen unterstützt mich eine Nachbarin. Gründonnerstag haben wir zum ersten Mal gemeinsam mit dem Haus nebendran gefrühstückt. Wir beiden Orga-Teams waren uns einig, haben alles abgesprochen und es war richtig gut.«
»Mein Mann und ich waren Naturmenschen. Am Meer liegen war für uns nichts.«