Magazin | MutMacher
Wulfhild (79) und Bernd Wegert (84)

„Wir haben ein bewegtes Leben und trotzdem zusammengehalten“

Headerbild
Wulli und Bernd Wegert haben es geschafft, ihr Leben wieder selbst zu gestalten und genießen diese glückliche Zeit.

Jahrzehnte gemeinsam durchs Leben zu gehen füllt Bücher. Alles schön, alles gut? Selten hört man so offene Worte wie von dieser Familie. Eine verbreitete Erkrankung, auf die die Gesellschaft mit erhobenem Zeigefinger reagiert, haben beide durch tiefe Täler durchlebt. Sie sprechen darüber, um aufzuklären.

„Wir haben uns beim Studium in Würzburg kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Seit 57 Jahren sind wir verheiratet. Wir hatten einen starken Kinderwunsch, aber eigene Kinder blieben aus. Durch einen Glücksfall bekamen wir ein kleines Pflegekind. Das Frühchen wog 1740 Gramm und wurde nach sechs Wochen aus der Klinik entlassen. Später konnten wir unsere Tochter adoptieren. Nach drei Jahren erreichte uns ein Anruf aus einer Klinik, ob wir noch ein Kind aufnehmen würden. Auch in den Kleinen hatten wir uns sofort verliebt, obwohl mein Mann Bedenken hatte und meinte, Wulli, den kriegen wir nicht durch. Ich wollte unbedingt noch einen Sohn und glaubte fest daran, dass wir das schaffen. Das winzige Frühchen wog nur 1360 Gramm. Nach einem Vierteljahr war unser Glück perfekt, als wir ihn aus der Klinik abholen durften. Heute ist unser Sohn groß und gesund. Das sah am Anfang ganz anders aus. Es ist ein Segen Gottes, dass beide so gut gediehen und heute so tüchtige Menschen mit eigener Familie sind.“

„Ich habe so viel kaputt gemacht

Das ist die Sonnenseite ihrer Familie. Leider mussten sie auch das andere Extrem durchleben, über das Bernd sehr offen spricht: „Ich bin Wulli sehr dankbar, dass sie bei mir geblieben ist. Heute weiß ich, sie hat viel ertragen müssen und viel gelitten. Ich kann nicht nachvollziehen, warum ich alkoholkrank wurde. Im Elternhaus und in meiner Jugend war Alkohol für mich nicht relevant. Mein Berufsstart war eine Ausbildung zum Landwírt. Das wollte ich nicht bleiben und so begann ich nach dem Abitur ein Lehrerstudium. Dort lernte ich meine Frau kennen, die den gleichen Berufswunsch hatte. Lange Zeit spielte Alkohol keine Rolle. Bis heute weiß ich nicht, wann es angefangen hat. Das war ein schleichender Prozess. Ich war ein beliebter Lehrer und 21 Jahre Verbindungslehrer. Als Gymnasiallehrer für Deutsch, Sport und Religion habe ich funktioniert und vertuscht. Nur einmal hat mir ein Kollege geraten, ich solle mal zum Arzt gehen. Zunehmend begann eine schlimme Zeit. Ich suchte mir ärztliche Hilfe und nach einem erfolgreichen Klinikaufenthalt war ich 22 Jahre trocken. Mir war bewusst, dass ich keinen Schluck wieder trinken darf. Und tat es doch. In einer dummen Situation habe ich nur mal gekostet. Erst war es eklig, am nächsten Tag war das Verlangen wieder da und das Ganze ging von vorn los. Ich weiß nicht, warum ich das riskiert hatte, obwohl ich wusste, dass es für meine Krankheit kein Ende gibt. Wie viel hat meine Frau geweint!“
Seine Wulli hat Hilfe gesucht und ein Glücksfall belohnte ihre vielen Irrwege. „Nach den ersten Jahren habe ich meinen Glauben an Gott aufgegeben. Heute weiß ich, es kann so nicht funktionieren. Gott ist kein Automat. Ich ging zurück in unseren christlichen Verein und habe neu mit Gott angefangen und meine Hoffnung kam zurück. Bernds Rückfall dauerte sieben Jahre. Damals hat mir jemand die All-Anon-Gruppe in Singen empfohlen. Das ist eine weltweite Selbsthilfeorganisation für Angehörige von Alkoholkranken. Hier habe ich erfahren, dass das keine Säufer, sondern alkoholkranke Menschen sind. Mit Krebskranken geht man auch nicht grob um. Aber man denkt, höre doch auf, du siehst doch, wie schlecht es mir geht. Beim Alkoholkranken kommt das aber nicht an. Die Erfahrungen anderer Betroffener und die Literatur, die zur Verfügung gestellt wurde, haben meine Augen geöffnet. Ich verstand, was es bedeutet, süchtig zu sein. Jene neuen sieben ’nassen‘ Jahre meines Mannes mit vielen Aufenthalten zum Entzug in einer Klinik bedeuteten immer wieder, neu zwischen Hoffnung und Enttäuschung gebeutelt zu werden. Nach 31 Jahren Landleben verkauften wir unser Haus. Insgeheim versprach ich mir von einem Ortswechsel Besserung und wir fanden tatsächlich eine passende Wohnung in Bad Dürrheim. Mein Mann hat hier noch vier Wochen getrunken.“

„Plötzlich konnte der Schalter rumgedreht werden

Und dann kam die Wende. Haargenau erinnert sich Bernd daran. „Plötzlich war mir vieles klar geworden. Im August 2007 habe ich mir gesagt, entweder ich verrecke oder ich höre auf zu trinken. Meine Frau ging schon länger ins Fitnessstudio und ich war übergewichtig. Heute bin ich schlank, absolut trocken und mir ganz sicher, dass es keinen Rückfall mehr geben wird.“ Seine Wulli nickt: „Das Vertrauen musste erst wachsen, aber jetzt bin ich mir schon ziemlich sicher. Ich habe gleich im ersten Jahr in Bad Dürrheim eine Al-Anon-Gruppe gründen dürfen. Die evangelische Gemeinde gewährte mir einen Raum für die wöchentlichen Treffen mit Angehörigen von Alkoholkranken. Wir sind bis heute noch anderweitig ehrenamtlich tätig. Nicht nur das, auch wir lernen noch dazu. Im Mehrgenerationenhaus haben wir zwei einen Handykurs gemacht. Mein Mann kaufte kurzerhand zwei typgleiche Modelle. Ich war ein totaler Anfänger, wollte aber auch wissen, was das Handy alles kann. Jetzt können wir beide viel besser mit den Geräten umgehen. Wir müssen doch was tun in unserem Alter.Wir freuen uns, dass wir noch relativ fit sind. Kein Wunder nach 15 zufriedenen und nüchternen glücklichen Jahren im Kurstädtchen. Dank sei Gott, allen Freunden und natürlich ihm, meinem geliebten Mann!“

"In einer dummen Situation habe ich nur mal gekostet. Erst war es eklig, am nächsten Tag war das Verlangen wieder da."

Sidebarbild
Aus ihren zwei winzigen Frühchen wurden in kurzer Zeit zwei kerngesunde fröhliche Kinder.