Magazin | Einblicke
Meryem Kara (40)

„Wenn der eigene Wille funktioniert, kann man alles erreichen“

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Eigentlich ist alles ganz normal: Eine junge Frau gründet mit ihrem Mann eine Familie, sorgt sich um zwei Kinder, einen Hund und das Haus. Sie hat einen verantwortungsvollen Beruf und ist nebenbei auch noch Vereinsvorsitzende. Der prallvolle Terminkalender der Familie hängt in der Küche. Alles ganz normal? Fast – denn Meryem Kara ist blind.

Frau Kara, werden Sie oft gefragt, wie Sie das alles schaffen?
Eigentlich ständig. Ich bin in Tübingen mit der Krankheit auf die Welt gekommen. Einen kleinen, sehr verschwommenen Rest Sehkraft habe ich noch. Um es zu beschreiben: Ich schaue permanent wie durch eine dicke Nebelwand. Mein Vorteil ist, dass ich sehr früh Taktik und Tricks im Alltag und in unterschiedlichen Schulen gelernt habe. Ich kenne es nicht anders. Von außen bekomme ich viel Mitleid. Das ist nicht motivierend, manchmal denke ich, okay, davon werde ich auch nicht gesund, denn meine Erkrankung ist nicht heilbar. Inzwischen habe ich gelernt meine Situation zu kommunizieren. Wenn ich ein Ziel erreichen möchte, kann ich nicht einfach einen Blick darauf werfen. Für mich bedeutet das Umdenken, es kostet Zeit und Kraft. Ich glaube, jeder könnte so wie ich das Schicksal annehmen, aber erst dann, wenn man wirklich muss und auch will.

Was treibt Sie denn so unermüdlich an?
Ständig habe ich das Gefühl, mein Leben ist so kurz und ich verpasse etwas. Stillsitzen ist nichts für mich. Ich will in meiner Zeit mehr erleben, bin immer neugierig auf Neues. Fernsehen ist mir zu langweilig, da höre ich zu und lege gleichzeitig auch mal die Wäsche. Als Kind war ich sehr sportlich auf dem Rad, fuhr Tandem für Sehbehinderte und qualifizierte mich sogar zu den Paralympics. Leider wurde nichts daraus, weil meine Mutter einen schweren Schlaganfall hatte. Ab da habe ich sie gepflegt und mit 25 Jahren doch verloren. Meinen Kindern möchte ich viel auf ihren Weg mitgeben. Das mache ich eigentlich täglich.

Konnten Sie nahtlos nach der Schule eine Berufsausbildung angehen?
Nein, das ging Schritt für Schritt, auch weil meine Heirat und die Kinder zwischenzeitlich mein Leben ausfüllten. Am Anfang habe ich Flechtwerkgestalterin gelernt, das war keine leichte Arbeit, vor allem nicht für die Finger. Und dann wollte ich mehr und begann mit dem ersten Schritt zu meinem jetzigen Beruf. Vor zwei Jahren bekam ich eine blindentechnische Grundausbildung. Der Fachberater, übrigens auch ein Blinder, kam mit seinem Führhund zu mir nach Hause. So lernte ich, meinen Laptop zu bedienen. Dafür gibt es ein Spezialprogramm, das eine stark vergrößerte Text- und Sprachausgabe hat. Ich musste lernen, mit der Sprachausgabe umzugehen. Als Blinder benutzt man keine Maus, sondern muss sich viele Kürzel merken und genügend Speicher im Kopf haben.

An Ihrem Brillenbügel fällt ein kleines Gerät auf. Gehört das zum Handling Ihres Laptops?
Nein, das ist mein nächster größerer Schritt zum Berufsleben. Das kleine Teil ist mein mobiles Vorlesesystem, das mit einem Magnet an die Brille geclipst wird. Es liest mir überall und jede Art von Texten vor. Das war ein Glücksgriff. Ich hatte einen Augenarzttermin und war wegen anderer Hilfsmittel dort. Die Ärztin empfahl mir die ‚Orcam‘ und erklärte mir, welche Ziele ich damit erreichen kann. Für so etwas bin ich immer offen. Mit dem Rezept nahm ich Kontakt mit dem Hersteller auf. Deren Berater kam zu mir nach Hause, erklärte alle Funktionen und zeigte mir, wie die kleine Kamera funktioniert. Ich war begeistert. Meine Krankenkasse hat schnell reagiert. Das Handling ist mit Handzeichen und Sprachbefehlen sehr einfach. Daten können gespeichert und Texte vorgelesen werden. Meine ‚Orcam‘ erkennt auch Gesichter und Produkte. Ich habe ein Riesenstück Lebensqualität bekommen, kann unterwegs Plakate, Schilder, Öffnungszeiten, Speisekarten, einfach alles lesen. Zu Hause finde ich die richtigen Soßen und Produkte zum Kochen. Man kann Personen einscannen, die mir genannt werden, wenn ich ihnen begegne. Auch meine ehrenamtliche Tätigkeit ist damit viel besser zu schaffen. Mich haben die Eltern zum Vorstand vom türkischen Elternverein gewählt. Dazu gehört viel Öffentlichkeitsarbeit. Ich bin im Netzwerk meiner Heimatstadt Oberndorf dabei und wir möchten viele Ideen gemeinsam umsetzen. Aber das Beste ist, dass diese kleine Kamera mir Mut gab und ich dadurch großes Interesse für eine interessante Berufsausbildung entwickelte.

Vor Ihnen liegt ein Prospekt mit der Bezeichnung MTU. Verbirgt sich dahinter eine spezielle Berufsausbildung für Blinde?
Ja, wir Blinde haben nachweislich einen überlegenen Tastsinn. Bei der Suche nach einem interessanten Beruf bin ich auf ein Unternehmen gestoßen, das Frauen wie mich ausbildet und anschließend auch einstellt. Ich habe mich beworben, wurde angenommen und in Nürnberg zur medizinisch taktilen Untersucherin (MTU) ausgebildet. Das war nicht leicht. Für mich hieß das sechs Monate Schule in Nürnberg und drei Monate Praktikum in einer Praxis für Frauenheilkunde in Empfingen. Seit meinem Abschluss kann ich in der Praxis an zwei Tagen in der Woche meinen Beruf ausüben. Meine zweite Arbeitsstelle ist an einem Wochentag in Herrenberg und mit einer dritten Praxis bin ich im Gespräch. Ich bin glücklich, auch wenn ich viel Fahrzeit einplanen muss.

Was sich hinter der Tätigkeit verbirgt, ist für die meisten Neuland. Können Sie uns einen kurzen Einblick geben?
Wie gesagt, mein A und O ist meine ‚Orcam‘. Denn mit deren Hilfe kann ich auch besser selbstständig arbeiten und schaue nach, wann welche Patientin kommt. Gemeinsam mit ihnen fülle ich den Anamnese-Fragebogen aus, denn mein kleines Gerät liest mir alles vor. Im Anschluss beginnt die Untersuchung. Das heißt, ich ertaste Veränderungen der Brust und verschaffe mir einen Überblick über Größe, eventuelle Hautveränderungen und Temperaturunterschiede beider Brüste. Wir dürfen keine Stelle auslassen und müssen sehr genau arbeiten. Dazu arbeite ich mit Zeige- und Mittelfinger beider Hände und nutze fünf Docustreifen, die mir zur Orientierung dienen. Wir testen mehrere Zonen bei Patientinnen in fünf unterschiedlichen Haltungspositionen. Zu unserer Arbeit gehört auch, die Patientinnen so zu schulen, dass sie selbstständig zu Hause Veränderungen in ihren Brüsten spüren können. Wenn ich bei meinen Untersuchungen etwas ertaste, untersuchen anschließend die Ärzte genau, was sich dahinter verbirgt. Was ich spüre, muss ja noch nicht bösartig sein. Zu mir kommen viele Jüngere, die noch kein Screening haben. Inzwischen übernehmen viele Krankenkassen auch die Kosten.

"Blinde haben nachweislich einen überlegenen Tastsinn. Bei der Suche nach einem interessanten Beruf bin ich auf ein Unternehmen gestoßen, das Frauen wie mich ausbildet und anschließend auch einstellt."

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Meryem Kara in ihrem Berufsalltag in der Frauenarztpraxis ... und links mit ihrem kleinen Wundergerät an der Brille, mit dem Sie mühelos Texte „lesen“ kann.
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Familie Kara: Yilmaz, der elfjährige Fußballer Ibrahim-Eren mit Familienhund Snoopy und Meryem. Fotografin ist Tochter Aleyna Irem.