Magazin | MutMacher
Waltraud (60) und Reinhard (65) Irion

Positives genießen und lernen, Nein zu sagen

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Waltraud hilft ihrem Mann auf das Rad, schnallt seinen linken Fuß auf die Pedale. Der rechte Fuß bewegt das Rad. Die linke Hand wird auf den Lenker gelegt und nur die rechte bewegt den Lenker. Dadurch werden nicht nur die Muskeln der gesunden Körperseite, sondern auch die behinderten Köperteile und die Schultern trainiert.

So schnell kann es gehen – morgens zur Arbeit fahren und mittags auf dem OP-Tisch liegen. Reinhard Irion konnte vor sechs Jahren nach seinem schweren Schlaganfall kaum verstehen, was mit ihm passiert ist.

„Wegen meines hohen Blutdrucks aufgrund einer anderen Erkrankung hatte mich mein Doktor auf den Ernstfall vorbereitet. Und dann ist er passiert. Als Schreinermeister war ich mit der Arbeitsvorbereitung beschäftigt und merkte beim Telefonieren, dass mein linker Arm runtergefallen war. Ich lief zu meinem Chef und bat ihn, die 112 anzurufen. Der Notarzt war schnell bei mir. Bis dahin war schon meine linke Seite gelähmt.“ Für seine Frau Waltraud war der Anruf zuerst kein Schock: „Mein Mann bekam seit längerem Blutverdünner und war rasch im Klinikum. Das war für mich beruhigend. Mit einem schweren Verlauf hatte ich nicht gerechnet und bin sofort ins Krankenhaus gefahren. Als ich ankam, lag mein Mann auf dem OP-Tisch. Ich war fassungslos und erfuhr, dass er einen Schlaganfall mit einer Hirnblutung hat. Wäre das eine Stunde später passiert, hätte mein Mann im Auto auf der Heimfahrt gesessen. Nach dem künstlichen Koma war die linke Körperseite noch gelähmt. Aber er hatte ein starkes Redebedürfnis. Ihm war nicht bewusst, warum er nicht Gehen und Sitzen kann. Unsere drei Kinder und ich waren froh, dass er sprechen und klar denken konnte. Auch wenn er Buchstaben verschluckte, wir haben ihn verstanden. Trotz aller Schwere war das eine Erleichterung für uns. Im Anschluss an das Krankenhaus kam er zur Reha nach Allensbach. Er hatte viele Therapien, machte alles mit und kämpfte. Die Therapeuten lobten ihn sehr. Das war seine Motivation.“ Für Reinhard war klar, dass er die Reha zu Fuß verlassen kann. Nach einem Vierteljahr aber war erst mal erreicht, was erreicht werden konnte. Weitere Verbesserungen brauchten Zeit und ambulante Therapien. Er kam nach Hause – im Rollstuhl. Ein Stück Hoffnung war geschwunden und Waltraud musste das Leben zu Hause einrichten: „Reinhard war enttäuscht. Doch noch in der Reha wurden wir sehr gut für die Zeit zu Hause vorbereitet. Das Personal übte mit mir jeden Handgriff. Ich war beruhigt, weil ich wusste, das bekomme ich hin. Dann aber begannen andere Probleme. Wir brauchten daheim sofort ein Pflegebett. Der Antrag wurde mit der Begründung ablehnt, dass erst nach einer Pflegegrad-Einstufung das Bett gestellt werden kann. Wie sollte das gehen? Ab da habe ich gelernt mich zu wehren. Es hat dann doch geklappt. Warum die Aufregung. Leider war es nicht das einzige Mal. Wenn wir heute von einem Hilfsmittel überzeugt sind, akzeptieren wir eine Ablehnung nicht. Man muss hart kämpfen, auch wenn man das innerlich nicht möchte.“

Der Tacho zeigt 22.000 Kilometer an

Und dann kam ein Glücksfall. Über eine Therapeutin lernten die Irions einen Schlaganfall- Betroffenen kennen, der mit einem speziell ausgestatteten Rad allein fahren konnte. Beide waren begeistert und bestellten nach einer Probefahrt das Fahrrad als Selbstzahler. Für Reinhard ging ein Traum in Erfüllung: „Plötzlich fühlte ich mich frei und mobil. Trotz meiner Behinderung kann ich selbstständig und allein etwas unternehmen. Das ist ein großes Stück Lebensqualität. Rund um unser Öfingen sind viele Wege, auf denen ich vom Haus weg unterwegs bin. Jeden Tag, an dem es nicht regnet oder eisig kalt ist, fahre 30 bis 50 Kilometer. Das sind für mich drei Stunden. Geht es stark bergauf, kann ich den Motor zuschalten. Natürlich war ich auch schon zu übermütig und habe Lehrgeld bezahlt. In einer Kurve bin ich umgestürzt mit dem Ergebnis einer gebrochenen Schulter. Ein Autofahrer half mir wieder auf mein Rad und ich fuhr nach Hause. Jetzt bin ich etwas vorsichtiger. Auf meiner Strecke treffe ich oft Kollegen oder Bekannte. Ich bin in Öfingen geboren und war lange im Ortschaftsrat. Da muss ich mir keine Sorgen um Hilfe machen, falls mir etwas passieren würde. In fünf Jahren bin ich schon 22.000 Kilometer gefahren.“

"Wenn wir heute von einem Hilfsmittel überzeugt sind, akzeptieren wir eine Ablehnung nicht. Man muss hart kämpfen, auch wenn man das innerlich nicht möchte.“

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Früher: Morgens schmierte Waltraud ihrem Mann ein Brot – immer mit zu wenig Honig. Heute: Reinhard zeigt seinen Einhandteller: „Unsere Tochter fand im Internet einen genialen Teller. Wieder habe ich ein Stück Selbstständigkeit zurückbekommen. Ich kann allein mein Brot schmieren – mit so viel Honig wie ich will.“