„Plötzlich lief vor mir alles wie im Film ab“
Natürlich bedeutet Leben auch Abschied nehmen. Dennoch: Manchmal kommt er unerbittlich zu früh. Durch tiefe Täler mussten Nicole und Markus vier Jahre gehen. Bewundernswert haben sie ihren letzten Weg gefunden und bewusst in harmonischer Umgebung miteinander erlebt.
„Es war eine unbeschreibliche Liebe auf den ersten Blick. Markus und ich kennen uns seit sieben sehr intensiv gelebten Jahren. Ich glaube, dass wir eine Seelenverwandtschaft haben. Wie ein altes Ehepaar wussten wir genau, was der andere denkt. 2018 kam das Unbegreifliche. Markus bekam Rückenschmerzen und beim Wandern Luftnot. Aus heiterem Himmel prasselte die Diagnose Lungenkarzinom auf uns, obwohl er seit seiner Jugendzeit nicht mehr raucht. Als wir vom Arzt nach Hause fuhren, beschloss Markus, dass wir sofort heiraten sollten. Am gleichen Tag waren wir beim Notar, haben ein Haus gekauft und ich hatte Geburtstag. In Rottweil fanden wir eine verständnisvolle Standesbeamtin, die bereit war am nächsten Tag – einem Samstag – extra zu kommen und uns zu trauen. Wir haben die Familie eingeladen und sind auf die Alb gefahren, um Hochzeitskleidung zu kaufen. Unser Wunsch war, in Dirndl und Lederhose zu heiraten. Bei mir lief alles wie im Film ab. Es war eine wunderschöne Hochzeit. Mein Mann ist Handwerker und hat die folgenden Monate unser altes Haus komplett mit Unterstützung unserer Freunde saniert. Im April 2019 konnten wir einziehen. Meinem Mann hat das viel Kraft gegeben. Er hat immer gesagt, dass er ohne die Aufgabe in seinem Elend versunken wäre. Aber es gab keinen Tag, an dem ich nicht an diese Krankheit gedacht habe. Markus hat diese Gedanken überspielt, Sport getrieben und seine Ernährung total umgestellt. Er war überzeugt, dass er den Krebs besiegen wird. Zwischendurch gab es auch mal kleine Hoffnungsschimmer.
„Die Krankheit wurde immer aggressiver
Zuerst bekam Markus eine gut verträgliche Tabletten-Chemo. Das reichte bald nicht mehr. In der Hüfte hatten sich Metastasen gebildet. Es gab nur noch eine Chance mit einer ’normalen‘ Chemo. Das war brutal. Plötzlich sagte er zu mir, dass mit seinem Kopf was nicht stimmt und er alles vergisst. Ihm war ständig übel. Er hatte höllischen Kopfschmerzen, brachte alles durcheinander und wurde verbal aggressiv. Wenn ich mit ihm wie mit einem Kind redete, hörte er mir zu. Er wollte immer nach Hause und wusste nicht mehr, wo wir wohnen. Dann kam das unerbittliche Ende: Seine Hirnzellen wurden zerstört und uns ein Pflegeheim empfohlen. Das wollte ich nicht. Und so wurde er palliativ betreut. Seit Mai spricht er nicht mehr. Das Schlimme für mich ist, dass wir nie über das Ende gesprochen haben. Ich konnte nicht davon anfangen, weil ich wusste, er wollte das nicht hören. Wir haben nur darüber geredet, wo Testament, Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung liegen. Nur einmal sprach er kurz vor dem Tod seines Freundes darüber, dass für den ein Hospiz das beste wäre, weil es dort sehr angenehm wäre. In Schwenningen fand ich das Hospiz Via Luce.
Als Markus Nester seine Diagnose erhielt, beschloss er, sofort zu heiraten.
Ich gehe jetzt davon aus, dass er es mir nicht übelnimmt, dass ich ihn dorthin gebracht habe. Zwei Tage vorher durfte ich in sein Zimmer. Das Pflegepersonal hatte mir empfohlen, den Raum mit persönlichen Dingen zu dekorieren. Früher hatte ich traurige Vorstellungen von einem Hospiz. Das hat sich schlagartig geändert. Nach einem Tag war Markus wie umgedreht und lachte wieder. Weil er nicht mehr sprechen konnte, gab er Zeichen, wenn das Pflegepersonal kam. Er zeigt Regungen, aber ich weiß nicht, was und wie es bei ihm ankommt, was um ihn herum passiert oder wir mit ihm sprechen. Es ist schlimm für mich, dass ich auch nicht weiß, wie er sich seine Beerdigung wünscht. Markus hat ganz liebe Eltern und eine liebe Schwester. Mit ihr habe ich darüber gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass es eigentlich meine Beerdigung sei, und sie sich sicher sei, dass Markus alles gefallen würde, was ich tue. Auch seine Eltern kommen täglich und füttern ihm das Mittagessen. Sie möchten das, weil es das einzige ist, was sie noch für ihn tun können. Markus ist keinen Tag allein, wenn ich mal mehr schaffen muss, sind seine Eltern oder die Schwester da und schicken mir sofort Bilder. Ich habe eine tolle Familie, die mir sehr gut tut. Wenn ich ihn besuche, freut er sich und ich bekomme einen Kuss. Er spürt aber auch, wenn ich gehen muss und meine Tasche einpacke. Dann ist er beleidigt, dreht den Kopf weg und will mir keinen Kuss geben. Ich bettele so lange, bis ich einen bekomme. Ansonsten könnte ich nicht in Ruhe nach Hause gehen. Meistens hält er meinen Arm fest und das mit viel Kraft. Markus hört gerne Musik, am liebsten Heavy Metal. Im Hospiz wird jeder Wunsch erfüllt. Seine Kumpels haben mit ihm den Fünfziger seines besten Freundes im Hospiz im Garten gefeiert. Für das Personal ist das alles kein Problem. Wir haben Essen und Trinken mitgebracht und gefeiert. Mein Mann hat sich unheimlich gefreut. Sein großer Schatz ist sein Enkel. Er ist neun Monate alt und zaubert ihm immer ein Lächeln ins Gesicht. Einmal hatte Markus einen schlechten Tag. Die Mama setzte den Kleinen auf seinen Schoss und Markus hatte sofort eine unheimliche Freude. Problemlos darf ich auch unsere Katze mitbringen. Emma hat sich sofort auf ihn gelegt und ließ sich von meinem Mann ewig streicheln. Zu ihr hatte er schon immer eine feste Bindung. Im Hospiz geht es ihm richtig gut. Wir spüren, er ist hier wieder aufgeblüht, das ist unbeschreiblich. Er lässt wieder alles zu, lässt sich rasieren, lacht und winkt. Das Zimmer hat keinen Krankenhauscharakter, vielleicht denkt er, es ist sein Zimmer. Markus macht auch Kinderspäße mit seiner Schwester, die oft zu ihm sagt: ‚Markus, es ist wir früher, als wir Kinder waren. Wenn ich beim Kuchen essen mal nicht hingeguckt habe, hast du mein Stück gegessen.‘ Genau das macht er heute wieder, hier im Hospiz. Es ist schön, das zu sehen. Wir leben hier eine ganz intensive Zeit miteinander. Ich kann im Moment nicht glauben, dass er nicht mehr heimkommt. Immer spüre ich seine Liebe.“
Anmerkung der Redaktion: Tage später schreibt uns Nicole Nester: Meine Geschichte ist zu Ende, Mein Mann ist diese Nacht friedlich eingeschlafen.
"Ich glaube, dass wir eine Seelenverwandtschaft haben."