Magazin | MutMacher
Traude Steigerwald (86)

„Mein roter Rollstuhl kann Geschichten erzählen“

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„Der rote Rollstuhl war unser Privatvergnügen und wir nannten ihn unser Luxusauto. Wenn mein Mann frei hatte und wir etwas unternehmen wollten, war der Rollstuhl derjenige, der uns das ermöglichte. In meinem neunten Lebensjahr erkrankte ich an Kinderlähmung. Trotzdem konnte ich bis vor 20 Jahren noch verhältnismäßig gut gehen. Für mich war der Rollstuhl eine wunderbare Erfindung, mit der mich übrigens mein Mann vor Jahrzehnten im Urlaub überraschte. Wir hatten vereinbart, dass er alle zwei Tage allein eine längere Wanderung machen wird und ich dann im Hotel bleibe. Plötzlich bat er mich nach dem Frühstück, ihn zur Garage zu begleiten, und packte mit den Worten ‚ich habe ein kleines Auto für dich‘ den Rollstuhl aus dem großen Auto, das er extra gekauft hatte, um das Teil zu verstecken. Ich war empört und sagte ihm, dass er nicht glauben soll, dass ich mich je in das Ding setzen werde. Mein Mann tröstete mich, bat mich, es doch mal zu probieren und fand es schade, wenn wir nicht jeden Tag gemeinsam erleben könnten. Dann hockte er sich neben mich und fing an Witze zu erzählen. Ich musste so sehr lachen, dass ein entgegenkommendes junges Paar einfach mitlachte. Da war der Bann gebrochen, ich habe von da an mit Hermann und dem Rollstuhl viel erlebt. An einem Samstag in Villingen kam einer unserer Patienten auf uns zu, der mich in der Praxis nur laufend gesehen hat. Er war entsetzt und sagte: ‚Herr Doktor, das muss doch schlimm sein, einen Rollstuhl zu schieben.‘ Darauf fragte mein Mann: ‚Haben Sie jemals eine Mutter gehört, die sich beschwert, wenn sie ihren Kinderwagen schiebt?‘ Ein Rollstuhl, so haben wir erlebt, spricht Menschen emotional an und wird auch als Zeichen von Armut wahrgenommen. Wir waren in Villingen auf dem Rückweg zum Parkplatz. Da ging ein alter Mann sehr schnell an uns vorbei und legte mir zehn Mark in den Schoß. Er hatte wohl Mitleid. Wir trauten uns gar nicht ins Auto einzusteigen. Das Geld steckten wir dann im Villinger Münster in den Opferstock. Solche Szenen sind uns nicht nur einmal passiert.

„Der Rollstuhl gehörte zu unserem Leben“

Das kleine Auto hat uns das Reisen erleichtert. Einmal in Jerusalem ließen wir ihn vor dem Felsendom an der Treppe stehen. Als wir rauskamen war er weg. Wir schauten uns um und entdeckten ein paar Buben, die sich darin gegenseitig hin und her schubsten. Wir setzten uns auf die Treppe und warteten ab. Als uns die Kinder bemerkten, brachten sie ihn sofort zurück. Und einmal wurde er uns an einem Marktplatz vor einer Kirche in Südfrankreich gestohlen. Als wir aus dem Gotteshaus kamen, war unser Luxusauto nicht mehr da. Eine junge Frau hatte wohl etwas beobachtet, kam aus einem Geschäft, brachte mir einen weißen Küchenstuhl und fragte, ob uns der rote Rollstuhl gehört. Plötzlich standen noch mehr Franzosen um uns und erzählten, dass ein Araber den Stuhl mitgenommen hätte. Alle Männer schwärmten aus, um ihn zu suchen. Ich saß auf dem Küchenstuhl am Marktplatz und wäre am liebsten in den Boden versunken. Plötzlich klopfte mir jemand von hinten auf die Schulter und ein Schwall von nahöstlichen Lauten ging über mich. Ich verstand kein Wort, spürte aber, dass er mich beruhigen wollte und mir mitteilte, dass ich meinen Rollstuhl wieder bekomme. Aus einer Seitenstraße kam ein junger Mann, trug meinen zusammengeklappten Rollstuhl vor sich her und stellt ihn mir vor die Füße. Ich denke, der alte Herr war vermutlich sein Vater oder Großvater, für den es keine Ehre war, so was zu tun. Der Rollstuhl ist mit mir ins Kurstift nach Bad Dürrheim umgezogen. Für mich bedeutet er viele schöne Erinnerungen. Leider lebt mein Mann seit drei Jahren nicht mehr, ich vermisse ihn jeden Tag. Wir haben relativ spät geheiratet. Zur damaligen Zeit war es nicht üblich, dass gesunde Männer eine behinderte Frau heirateten, es war eher umgedreht. Das zeigt ein Stück von der Besonderheit unserer Beziehung.“

Ein roter Rollstuhl war für Familie Steigerwald das Luxusauto.

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Sie gehören zusammen: Traude Steigerwald und ihr roter Rollstuhl auf dem Bild der Ausstellung zum 45-jährigen Jubiläum des Kurstifts.