»Mein Leben wurde von heute auf morgen aus der Bahn geworfen«
Das sieht nach viel kreativer Arbeit aus: Ein voll bepackter Tisch mit Farbstiften, Scheren, Kleber, farbigem Karton, Buntpapier, beschriebenen To-do-Listen … und dahinter Sibylle Bendel, die die ihr noch verbleibende Zeit nutzen möchte. Ihre Phantasie für bunte Hingucker ist grenzenlos.
»Natürlich zwackte es mal hier, mal da. Ich hatte Wehwehchen, die ich für mein Alter normal hielt. Ansonsten fühlte ich mich gesund. Zur Wahrheit gehört auch, dass ich Vorsorgeuntersuchungen vernachlässigte. Seit 14 Jahren habe ich Morbus Crohn, begleitet von Operationen und Klinikaufenthalten. Aber daran stirbt man nicht. Mein Verdacht im Juni letzten Jahres brachte mich dazu, mich mal wieder beim Gynäkologen anzumelden. Schon beim Abtasten meiner Brust stellte er fest, dass etwas nicht stimmt. Dann lief die ganze Maschinerie an: Biopsie, Mammografie, MRT, Skelettszintigrafie und so weiter. Im Ergebnis gab es keine Zweifel. Für meine vermeintlichen Wehwehchen war mein Krebs die Ursache. Nicht bemerkte Knochenbrüche waren das Werk der Metastasen. Die Ärzte zeigten und erklärten mir alles genau. Ich bekam Chemos und Bestrahlungen, die meinem Körper furchtbar zugesetzt haben, sodass ich zwischen diversen Krankenhausaufenthalten am Ende nicht mehr allein zu Hause leben konnte. Kurz vor der dritten Chemo ging es mir zunehmend schlechter, der detaillierte Behandlungsplan wurde neu bewertet. Meine Ärzte bemühten sich sehr, mussten mir aber auch erklären, dass trotz ›starker Keule‹ keine Aussicht auf Heilung bestand. Lediglich könne die Krankheit etwas hinausgezögert werden. Da meine Nebenwirkungen so heftig waren, habe ich meinen Ärzten klar vermittelt, dass ich keine Behandlung mehr wünsche und ich mich für eine palliative Behandlung entschieden habe. Zwischen Ende Juni bis Mitte Oktober gab es ein paar Tage, an denen es mir gut ging und ich Hoffnung schöpfte. Aber im Oktober gings mir sehr, sehr schlecht. Auf meiner Lunge wurde Wasser festgestellt, dazu kam eine Blutvergiftung und ein akuter Morbus Crohn-Schub. Meinen Zustand konnte ich nur mit einer Katastrophe vergleichen.
Ich wurde ins Palliativzentrum verlegt. Mein Eindruck von Ärzten und Pflegepersonal: In den Räumen schwebte das Motto ›Ich versorge Dich‹. Dort wurde ich auch seelisch aufgepäppelt und darüber aufgeklärt, dass ich – falls ich mir doch noch eine Behandlung mit Chemo oder ähnlichem vorstellen könnte – jederzeit wieder ins Krankenhaus zurück könne. Daran hatte ich kein Interesse. Ich wurde im Hospiz in Schwenningen angemeldet und konnte hier kurz vor Weihnachten einziehen. Auch hier werde ich medizinisch betreut, ich muss keine Schmerzen mehr ertragen und bin glücklich, die mir noch verbleibende Zeit sinnvoll zu gestalten. Natürlich weiß ich, dass ich sterbenskrank bin, da bin ich realistisch. Ich nehme jedes Angebot dankbar an. Dazu gehört wie im Palliativzentrum auch hier im Schwenninger Hospiz, dass alle jederzeit gesprächsbereit sind.
»Das Hospiz ist eine Chance – eine schöne komplette Einhüllung
Außer der Krankheit trage ich auch noch einen Problemrucksack mit mir herum. Ich bin alleinerziehende Mutter mit einem langjährigen persönlichen Problem, mit dem ich meine Familie vor den Kopf gestoßen habe. Das wollte ich ändern und mein Leben nochmal in die Hand nehmen. Vier Wochen vor der Diagnose zog ich in eine kleinere Wohnung und habe vieles entrümpelt. Ich hatte einen Therapieplatz für August und wollte mich auf einen neuen Lebensweg machen. Doch es war zu spät. Mit meiner Familie habe ich hin und wieder Kontakt. In dringenden Fällen bekomme ich ihre Unterstützung. Aber ich kann jetzt nicht so tun, als müssten sich alle vor Mitleid um mich kümmern und möchte keinem ein schlechtes Gewissen machen. Ich muss die Situation so akzeptieren. Ob diese Lösung die richtige ist, weiß ich nicht. Für mich ist sie momentan richtig, eine andere Option habe ich nicht. Vielleicht ist es meine gedankliche Freiheit, den Weg gehen zu wollen, weil der Druck weg ist. Das ist nicht einfach, kostet auch Tränen und Kraft.
Eine Endzeitstimmung habe ich noch nicht. Aber ich versuche, so lange ich laufen und basteln kann, unseren Gemeinschaftsraum und mein Zimmer mit bunten Blumen zu schmücken. Ich weiß, dass die Zeit kommt, in der ich im Bett liegen muss. Dann lese ich vielleicht mehr und mache Kreuzworträtsel.
Es gibt natürlich Momente, in denen ich weine oder eine Stinkwut auf meine Krankheit habe, und sie als Frechheit bezeichne. Manchmal realisiere ich ganz plötzlich, dass ich im Hospiz bin und hier irgendwann sterben werde. In solchen Momenten finde ich alles unfassbar. Das ist sicher normal. Nebenher schreibe ich auch meine Gedanken auf. Nach dem ›Warum‹ frage ich nicht. Das würde bedeuten, dass ich ja damit gleichzeitig meine: Warum nicht ein anderer? Das ist Quatsch. Natürlich sind auch Ängste da, ich stelle hier Fragen, wie im Palliativzentrum: Wie werde ich sterben und woran sterbe ich dann? Was dabei mit einem passiert, das bewegt mich schon. Es ist schön hier, jede Stunde kommt jemand ins Zimmer, erkundigt sich, wie es mir geht. Die fangen mich sofort auf, wenn sie merken, dass bei mir Gesprächsbedarf da ist. Seit ich hier eingezogen bin, habe ich viele Gäste gehen sehen. Und plötzlich wird der Tod so normal. Und ich sehe auch, dass Angehörige genauso friedlich rausgehen, wie diejenigen, die verstorben sind. Allen wurde einfach eine Last genommen.
Kurzum, man kann sich ironisch, humorvoll oder auch sarkastisch über dieses ganze Scheißthema unterhalten. Wenn mein Kopfkino anschlägt, habe ich im Palliativzentrum und hier Hilfe bekommen und mit bestimmten Techniken gelernt loszulassen. Mal gelingt mir das, mal nicht. Dazu gehört folgendes Bild als Hilfestellung: Ein Monster sitzt auf einem Wagen, der mir den Weg versperrt. Man muss verstehen lernen, dass man das Monster mitnehmen muss, sonst geht es nicht weg und ich komme nicht weiter. Auch Atemübungen gehören zum Loslassen. Vieles läuft unterbewusst ab. Dass es mir noch mal so gut geht wie jetzt hier, damit habe ich nicht gerechnet.«
»Nicht bemerkte Knochenbrüche waren das Werk der Metastasen.«