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Zehn Gebote für bestmögliche Anästhesie

Macht Narkose dumm und schusselig?

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Anästhesistin vor der Narkoseeinleitung im Gespräch mit einem Patienten.

Eine Operation ohne Narkose? Nicht vorstellbar. Trotzdem treibt das Thema bei vielen die Sorge um, wie es ihnen nach dem Aufwachen ergehen wird: Ist man konfus, braucht es Zeit, sich wieder im Leben einzusortieren, fühlt man sich schlecht? Ob und wie dem entgegengewirkt werden kann, darüber sprechen wir mit dem Direktor der Klinik für Anästhesiologie am Schwarzwald-Baar Klinikum, Prof. Dr. med. Sebastian Russo, der seit Jahren aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse unter anderem auch alte Zöpfe abgeschnitten hat. Und das mit spürbaren Ergebnissen für die Patienten.

? Herr Professor Russo, wie sehen Ihre Patienten die Narkose?
Für Patienten ist die Anästhesie ein bisschen wie Voodoo. Man versteht sie nicht genau, schläft, hat Kontrollverlust, weiß nicht was passiert und vergisst Raum und Zeit. Viele sorgen sich, ob sie wieder aufwachen. Wir Narkoseärzte betreuen unsere Patienten während der OP bis hin zum Aufwachraum und müssen immer versuchen, für die Patienten eine wohlfühlende und angstfreie Atmosphäre zu schaffen. Ein zentraler Punkt unserer Aufgabe ist Einschätzung der Narkosetiefe.

? Was ist darunter zu verstehen?
Das Ziel ist immer, dass Patienten von der OP nichts mitbekommen. Besonders bei Älteren kann Vollnarkose Probleme bereiten. Deshalb messen wir permanent die Gehirnströme und sorgen dafür, dass die richtige Narkosetiefe eingestellt ist und unsere Patienten zur richtigen Zeit aufwachen. Kurz formuliert heißt das, keine zu flache und keine zu tiefe Narkose. Genau das ist der Korridor, in dem wir uns befinden. Voraussetzung ist, dass wir Risiken vorher abschätzen und diese mit Patienten und Angehörigen besprechen. Der Regelfall sind geplante OPs. Wie der Operateur führen auch wir in unserer Anästhesieambulanz Gespräche, untersuchen die Patienten, fragen nach ihren Ängsten, schauen auch, ob ein kognitives Defizit vorhanden ist. Wichtig ist, einen Überblick über die Gehirnleistung zu bekommen, um letztendlich ein bestmögliches Ergebnis individuell für jeden einzelnen Patienten zu erreichen. Selbstverständlich klären wir über Narkoseverfahren, Möglichkeiten und Risiken auf, letztendlich müssen Patienten auch einwilligen.

? Welches sind Ihre Fixpunkte für eine zielorientierte individuelle Narkose?
Das sind unsere zehn Gebote – die zehn ›Ns ‹, die wir für alle Altersgruppen im Blick haben müssen: No fear (keine Angst) und normaler Blutdruck, der stabil gehalten werden muss, damit alle Organe vernünftig durchblutet werden. Gleichberechtigt gehören noch dazu: normale Herzfrequenz, normaler Flüssigkeitshaushalt, normaler Sauerstoffgehalt im Blut, normaler Kohlendioxidgehalt im Blut, normaler Elektrolythaushalt (Salzhaushalt), normaler Zuckergehalt im Blut, normale Körpertemperatur, no pain (keine Schmerzen). Wir Narkoseärzte betreuen unsere Patienten vom Beginn der OP bis hin zum Aufwachraum und kümmern uns darum, dass wir deren Körpergleichgewicht halten. Das heißt unter anderem, den Körper mit einer Decke warm halten, vernünftig Kohlendioxid abatmen, ausreichend Flüssigkeit, ausreichend Blutzucker, Herzfrequenz und Blutdruck im Normbereich halten.

? Voll- oder Teilnarkose, nach welchen Gesichtspunkten wägen Sie ab?
Es gibt Eingriffe, bei denen wir eine Vollnarkose machen müssen. Dabei sind Patienten bewusstlos, werden künstlich beatmet und schlafen. Das betrifft vor allem Eingriffe im Brustkorb oder im Bauchraum. Und bei Notfällen ist Eile geboten. Bei anderen Operationen gibt es die Chance einer Risikoabwägung. Nehmen wir als Beispiel-OP eine Knieprothese. Mit Patienten ohne besondere Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf- oder Lungen-Erkrankungen sprechen wir darüber, ob sie Vollnarkose oder Teilnarkose (Spinalanästhesie) wünschen, klären sie über Vor- und Nachteile und individuelle Risiken auf. Bei dieser OP ist Teilnarkose Standard. Sie wirkt mehrere Stunden und ist angenehm für Patienten, Operateur und die Schmerztherapie. Will man ausdrücklich nichts mitbekommen, können wir mehrere Varianten anbieten: Erstens eine Vollnarkose. Möglichkeit zwei ist die Teilnarkose mit der Option zum Schlafen und selbstständigen Atmen. Diese Patienten können jederzeit geweckt werden. Möglichkeit drei wird oft von Jüngeren bevorzugt. Sie bringen Smartphone und Kopfhörer mit und hören ihre Lieblingsmusik. Zusätzlich bieten wir eine Art 3D-Brille mit Kopfhörer an. Hierbei kann man entscheiden, ob man eine Dokumentation oder einen Film ansehen will. Bei kleineren Operationen, beispielsweise an den Händen oder Weichteilen, geht das sehr gut.

? In dem Zusammenhang hört man auch von einer Homöostase. Was bedeutet das?
Das ist ein dynamisches Gleichgewicht und damit ein essenzielles Prinzip für die Lebenserhaltung und Funktion des Organismus oder der Organe während der OP. Wichtig ist für uns, konstante Verhältnisse für den ganzen Menschen zu schaffen, um ihn bestmöglich über die Zeit der Narkose zu bringen.

? Was hat die Befürchtung befeuert, dass Narkose dumm und schusselig macht?
Früher gab man zusätzlich Beruhigungstabletten, die nicht zielgenau auf den Zeitpunkt eingesetzt werden konnten und auch die Schusseligkeit fördern können. Darauf versuchen wir zu verzichten. Das postoperative Defizit, bei dem Angehörige mitunter empfinden, dass der Opa nicht mehr so fit wie vorher sei, hat manchmal Monate gedauert. Das wollen wir unbedingt vermeiden. Doch wir haben nicht nur die Langzeitnebenwirkungen, sondern auch gezielt kurzfristiges Aufwachen der Patienten im Blick. Alle Menschen brauchen eine Orientierungsphase. Dazu gehören vermeintliche Kleinigkeiten, die extrem wichtig sind und den Patienten schnell ein Stück Alltag zurückgeben. Kurz gesagt: Brille auf, Hörgerät rein, Prothese in den Mund und möglichst schnell eine Bezugsperson am Bett.

? Und welche sind die alten Zöpfe, die heute nicht mehr zu einer OP gehören?
Das sind die, die dringend abgeschnitten gehören. Zum Beispiel Essen und Trinken vor und nach einer OP. Früher geltende Zeitabstände sind oft noch in den Köpfen manifestiert, aber längst nicht mehr Stand der Wissenschaft. Man hat Stunden vor und nach der OP weder essen noch trinken dürfen. Das ist falsch und unterstützt nicht stabile Körperfunktionen. Wasser geht innerhalb von zehn Minuten durch den Magen. Deshalb empfehlen wir, dass klare Flüssigkeit getrunken werden kann, bis man in den OP-Raum kommt. Und im Aufwachraum gibt’s sofort Getränke, auch Kaffee mit Milch, Apfelsaft oder einen Keks und ein Wassereis. Was man möchte. Es soll einem doch wieder gut gehen. Der positive Effekt für Patienten ist offensichtlich, die Schmerzen werden geringer, der Blutdruck stabiler und Erbrechen tritt seltener auf. Unsere Aufgabe ist, sicherzustellen, dass Patienten nicht mit Übelkeit und Schmerzen auf Station kommen.

Anästhesist an den Geräten im OP.

Anästhesist an den Geräten im OP.

WEITERE INFORMATIONEN:

»Wir bieten ein Leistungsspektrum vergleichbar der Maximalversorgung an.

Mit allen Mitarbeitern zusammen sind wir im ärztlichen Bereich knapp über 80 Narkoseärzte, die zusammen jährlich fünfzehn- bis siebzehntausend Narkosen durchführen. Und das in allen Altersklassen, von den Kleinsten bis hin zu hochbetagten Menschen.«

Prof. Dr. med. Sebastian Russo
Schwarzwald-Baar Klinikum
78052 Villingen-Schwenningen
Telefon (07721) 93-2601
www.sbk-vs.de

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Prof. Dr. med. Sebastian Russo, Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Notfall- und Schmerzmedizin im Schwarzwald-Baar-Klinikum