Magazin | MutMacher
Erika Bonczyk (94)

»Kinder, jetzt haben wir unseren Trauring gegessen«

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»Ich rege mich eigentlich nie auf. Das ist eine Gnade Gottes und bei mir vielleicht naturbedingt.

Geboren in Schlesien – Flucht nach Bad Belzig: Die damals zehnjährige Erika Bonczyk erinnert sich nicht an Angst. Sie empfand diesen Weg als Abenteuerreise mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern. Mit Lust und Neugier schmiedete sie ihre damals eher ungewöhnliche Karriere.

»Vater musste zum Volkssturm und Mutter flüchtete mit uns vier Kindern. Ich war zehn und die Älteste. Die vielen Etappen auf unserem Weg waren für mich spannend. Jeder hatte eine Tasche dabei und Mutter hielt Angst von uns fern. Mal schliefen wir in einer Scheune, wir im Heu und auf der anderen Seite standen die Kühe. Im nächsten Bauernhof durften wir in der Zinkbadewanne übernachten. Mutter war pragmatisch. Wenn es hieß, wir sollen unsere Tasche packen, war ich neugierig auf die nächste Station. Es gab keine Widerrede von uns. Natürlich erlebten wir auch böse Stunden. Wir hatten Hunger, Mutter gab mir ihren Trauring. Ich sollte ihn beim Bauern gegen etwas zum Essen eintauschen. Mit einem Brot kam ich nach Hause. Das war bei uns kein Drama, sondern fand nach der Devise statt: Problem erkannt und gelöst. Der Hunger ist gestillt. Mutters typischer Kommentar dazu war: ›Kinder, jetzt haben wir den Trauring gegessen.‹ Als Vater uns gefunden hatte, bekam er eine Arbeit als Lokführer. Oft bin ich mit ihm mitgefahren, ganz vorn in der großen Lok. Wir zogen nach Bad Belzig. Anstrengend war für mich, dass ich für die Mittelschule Latein lernen musste und dafür Privatunterricht bekam. Alles andere war für mich eine abenteuerliche spannende Reise.

»Meine Arbeit machte mir Freude, deshalb lief es im Beruf auch gut

Nach dem Schulabschluss begann meine Lehre in der Krankenpflegeschule in Potsdam. Bald bot sich eine bessere Gelegenheit in Trier. Dort bestand ich mein Examen und arbeitete vier Jahre als Krankenschwester. Mein nächstes Ziel war die Charité in Berlin. Hier machte ich mein zweites Examen als Narkoseschwester. Als Belastung habe ich das nicht empfunden, auch wenn ich oft nachts aufstehen musste. Es gab keine 38 Stunden Arbeitszeit. Wir haben gearbeitet, wenn es notwendig war. Nach Jahren zog ich weiter an die Uniklinik Münster. Aus einer Laune heraus bewarb ich mich als Pflegedienstleiterin in der neu erbauten Hüttenbühlklinik in Bad Dürrheim. In Kliniknähe bekam ich eine neue große Wohnung. Von hier aus kam ich nur im Bademantel über den Hof in unsere Sauna und das Schwimmbad.
Da ich nicht verheiratet war, habe ich mein Geld für wunderbare Studienreisen ausgegeben. Die schönsten waren neun komfortable Kreuzschifffahrten. Ich war fast überall auf dieser Welt. Das war großartig, vor allem in Thailand und Indonesien. Das Besondere waren die Natur und die Menschen, die ärmer aber zufriedener sind. Solche Reisen waren für mich richtig gut. Trotzdem habe ich mich immer wieder auf zu Hause gefreut. Hier ist alles geordneter und Bad Dürrheim ist eine wunderschöne Kleinstadt geworden. Mit 90 bin ich noch Auto gefahren. An ein Pflegeheim habe ich nie gedacht. Dann kam der Tag, an dem ich beim Telefonieren aus dem Stand gestürzt bin und mir die Knochen gebrochen habe. Es folgte eine OP nach der anderen. Ich wollte das alles nicht wahrhaben, bis mir mein Hausarzt ins Gewissen redete und mir den Platz im Bürgerheim organisierte. Ich musste akzeptieren, dass es keine andere Lösung gab. Ich habe mich eingelebt und eine sehr, sehr liebe Betreuung im Haus. Die nehmen sich auch Zeit zum Reden und schauen ständig, ob alles in Ordnung ist. Auch die Nachtschwester kommt zweimal ins Zimmer. Bei Schichtwechsel melden sich die Pfleger, damit man weiß, wer jetzt da ist. Die Betreuung und die Fürsorge sind sehr gut. Sicher gibt es auch mal etwas mufflige, aber die anderen überwiegen. Ich habe keine Ziele mehr, meine Kräfte lassen das nicht zu. Kommen mal wehmütige Gefühle, verdränge ich sie und lenke mich mit politischen Beiträgen in der Zeitung und mit Fernsehen ab. Am besten gefällt mir Markus Lanz. Das sind heute meine Chancen.«

»Mein Spruch, den ich gut finde: Das Leben ist ein Kampf? Dann siege!«

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Da ich nicht verheiratet war, habe ich mein Geld für wunderbare Studienreisen ausgegeben. Die schönsten waren neun komfortable Kreuzschifffahrten. Ich war fast überall auf dieser Welt. Die Pins erinnern mich.