Magazin | MutMacher
Luise Tegtmeier (84)

„Hier genieße ich die Freundlichkeit der Menschen“

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Luise Tegtmeier wohnt seit sechs Jahren in Villingen, schwärmt von dieser guten Zeit und ihren jüngsten Enkelkindern in ihrer Nähe.

Seit ihrer Geburt an der Spreequelle führten ihre Wege quer durch das ganze Land und vor sechs Jahren nach Villingen. Ihr Fazit ohne Wenn und Aber: Schöner als hier kann man es nicht haben.

„Mein Lebensmotto ist: Schau in die Natur und nicht in die Nachrichten. Schon eine Blüte ist etwas Schönes. Schlimm sind für mich Medien, egal ob Fernsehen, Zeitungen oder Rundfunk, die von jedem Winkel der Welt nur Negatives berichten und bis zum geht nicht mehr auswalzen. Das muss ich nicht haben. Ich habe viel Schönes in die Wiege gelegt bekommen. Voriges Jahr hat mich eine Freundin zum Geburtstag angerufen und mir gesagt, dass sie es wieder an meiner Stimme höre. Meine Fröhlichkeit sei wie in Kindertagen. Viele meiner früheren Kontakte habe ich aufrecht gehalten und im letzten Jahr 150 Weihnachtskarten geschrieben. Aber ich muss reduzieren, es wird mir zu viel.
Seit ich vor sechs Jahren an den Warenbach ins betreute Wohnen gezogen bin, hätte ich es nicht schöner treffen können. Hier passt einfach alles. Ich wohne stadtnah, bin in drei Minuten im Landschaftsschutzgebiet und laufe dort täglich mit meinen Stöcken. Die meisten Leute grüßen, das kannte ich in Nordrhein-Westfalen nicht. Und ich spüre große Ähnlichkeiten zwischen den Menschen hier und den Sachsen. Beide haben melodische Sprachen. Hier heißt es, schaffe, schaffe Häusle bauen. Der sächsische Fleiß ist ähnlich. Im Ruhrgebiet, wo ich nach unserer Flucht gewohnt habe, sagte man, die Sachsen verderben das Gedinge. Das hieß, wenn die anderen nicht mehr wollten oder konnten, haben die Sachsen weitergearbeitet. Zuerst wohnten wir in Marl, an meine Jugendjahre dort habe ich keine gute Erinnerung. Ich ging zum Mädchenkreis der Kirchengemeinde. Nur eine Familie erlaubte mir, die Tochter im Garten zu besuchen. Die anderen zeigten auf unsere Familie und meinten geringschätzig: das sind die vom Lager. Wir konnten nicht mithalten. Zum Gymnasium ging ich in Recklinghausen. Auch dort ist jeder seinen Weg gegangen. Ein furchtbares Erlebnis hatte ich im ersten Schuljahr bei einem Fliegeralarm. Eine Schülerin nahm mich zur Seite und sagte, dass sie einen sicheren Ort kenne. Eigentlich mussten wir in den Keller. Wir zwei sind abgehauen zum Friedhof. Ich lag unter einer Tanne und dann flogen die Flieger ganz tief über uns hinweg. Das war schrecklich. Später bin ich mit meinem Mann nach Ostwestfalen gezogen. Wir waren beide Lehrer. Die längste Zeit meines Lebens habe ich dort verbracht und bin nie heimisch geworden, obwohl es dort auch freundliche Menschen gibt.

„Ich bin gesund – für mich ist das ein Geschenk

Aus meiner Sicht – und das hat nichts mit Corona oder der Ukraine zu tun – bedauere ich heute die Jüngeren. Sie sind in einen Wohlstand hineingeboren, der nach meiner Meinung so nicht weitergehen kann. Sie sind nicht gewohnt zurückzustecken. Meiner Familie habe ich das Buch „Ein Glückskind“ empfohlen. Es handelt von einem Kind, das zwei Ghettos und den Todesmarsch in Polen überlebt hat und heute aufgestiegen ist zum amerikanischen Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Er erzählt ohne Bitterkeit seine Geschichte. Das hat mich sehr bewegt.
Warum ich mich hier so wohl fühle, hat auch was mit einem Mitbewohner zu tun, der ein unglaublich hilfsbereiter Mensch ist. Ich nenne ihn meinen Schutzengel, weil er mir nach einem Sturz geholfen hat. Auch zum Gottesdienst gehen wir gemeinsam. In der Johannesgemeinde wurde ich sofort warmherzig aufgenommen. Am Nachmittag hat der Nachbar keine Sonne auf dem Balkon, dann hole ich ihn manchmal rüber und das freut ihn auch. Durch ihn habe ich Kontakte zu Ukrainern. Seither betreue ich zwei Frauen und bin froh, dass ich andere noch unterstützen kann. So kommt bei mir keine Langeweile auf. Meine zwei Söhne bemühen sich sehr um mich. Einer wohnt in Villingen. Ich kann die Familie auch unterstützen und auf meine zwei herrlichen Enkelkinder aufpassen. Meinen Haushalt erledige ich selbst, und zwei Mal in der Woche kommt die Familie zu mir zum Essen.“

"Ich lag unter einer Tanne und dann flogen die Flieger ganz tief über uns hinweg. Das war schrecklich."