Magazin | MutMacher
Elfriede Lorenz (106)

„Ein Breggele Schokolädle beruhigt“

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Unvorstellbar: Im November vergangenen Jahres feierte eine Bewohnerin im Trossinger Bethel ihren 106. Geburtstag. Das weckt Neugier. Werden wir uns unterhalten können? Von wegen, vor mir sitzt eine zierliche, putzmuntere Dame mit blitzwachen Augen. Fein gekleidet und akkurat gekämmt erzählt sie in ihrem gemütlichen Zimmer von ihrem langen Leben. Elfriede Lorenz wurde 1913 in der Mühle ihrer Eltern in Heidelsheim bei Bruchsal geboren. “Wir waren drei Mädels. Unsere Eltern starben sehr früh, meine Mama 1925 und mein Papa 1933. Die waren sehr gut, nie gab es Schläge, ich glaube, wir waren alle brav. Jede hatte ein Fahrrad, mit dem wir zur Schule fahren konnten. Wir gingen in den Turnverein und lernten alle drei ein Instrument. Ich habe Klavier gespielt. Und ich weiß noch, Weihnachten kam ein Christkind in einem weißen Kleid zu uns. Das war wunderschön. Wir haben Orangen bekommen und auch mal eine Puppe und eine Wiege. Und jedes Jahr hat der Schreiner den Kaufladen aufgemöbelt. 1926 wurde ich auf die Mädchenfortbildungsschule geschickt, damit ich was dazulernen konnte. Ich weiß noch genau, wie mein Papa gesagt hat: ‚Hören Sie mal, hundert Mark ist aber viel Geld.‘ So viel musste er jeden Monat für mich zahlen.“ Ihren Mann kannte sie von klein auf, ging später mit ihm in eine Schulklasse. Er blieb die Liebe ihres Lebens, sie heirateten 1942 und fuhren an den Bodensee auf Hochzeitsreise. „Das war der einzige Urlaub in unserem Leben. Neben der Mühle haben wir unser Haus gebaut. Als erstes Kind kam unser Klaus-Jürgen zur Welt und zwei Jahre später unsere Birgit. Das Schwesterle wurde nur ein halbes Jahr alt und musste an Diphtherie sterben. Das war ein schlimmes Schicksal. Der Papa hat bis zum 65. Lebensjahr bei der Bundesbahndirektion in Karlsruhe geschafft. Leider ist er schon seit 39 Jahren tot. Er ist ohne eine Krankheit plötzlich umgefallen.“

Elfriede Lorenz hat ihr Leben lang, später gemeinsam mit Schwester und Schwager, in der Mühle gearbeitet und noch bis vor acht Jahren selbstständig in ihrem Haus gelebt. Nach einem Oberschenkelhalsbruch holten ihre Schwiegertochter Eicke und Sohn Klaus-Jürgen sie zu sich nach Trossingen. „Mir gefällts hier, weil alles geregelt ist. Das Schönste ist, dass ich auch mal was auf dem Teller liegen lassen kann, wenn ich nicht aufessen möchte. Aber Kaiserschmarren mit Apfelmus ist lecker. Mit meinem Rollator fahre ich zum Essen allein nach unten. Dort kaufe ich auch meine Schokolade. Alles andere besorgen meine Kinder. Sie besuchen mich fast jeden Tag, lesen mir aus der Bruchsaler Zeitung vor und waschen meine Wäsche. Nur meine Strümpfe wasche ich jeden Tag selbst.“

Erinnerungen bleiben im „Vergissmeinnicht“

Seit 1930 führt Elfriede Lorenz ein kleines Büchlein, das sie ihr „Vergissmeinnicht“ nennt. Hier trägt sie alle Ereignisse ein, die nicht vergessen werden dürfen. Nicht nur Geburtstage, Hochzeiten oder die Reisen ihrer Kinder werden für die Ewigkeit festgehalten. Auch wichtige Daten lieber Verwandter und Nachbarn und gesellschaftliche Ereignisse, wie die Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin, gehören zu den Festpunkten ihres Lebens. Und dann holt sie noch ihren alten Führerschein, den sie 1938 auf Wunsch ihres Mannes „auf einem Opel“ gemacht hat. „Irgendwie war ich wohl nicht hundertprozentig, immer hatte der Papa das Steuer in der Hand. Aber mein Schwager, der als Müller unsere Mühle übernommen hat, der war fortschrittlich. Er hatte einen Unimog gekauft, mit dem ich auch Mehl zu den Bauern ausfahren durfte. Ach ja, schön wars immer in der Mühle, wenn ich alles blitzsauber geputzt hatte und die Bauern ihr Getreide zum Mahlen gebracht haben.“

Im Alter wird der Radius kleiner, ihre Höhepunkte schafft sich die bewundernswerte Frau heute noch: „Jeden Freitag gehe ich im Haus zum Gottesdienst und sonntags mit meinen Kindern in die Cafeteria. Und wenn ich abends nach dem Essen einen schlechten Geschmack im Mund habe, esse ich ein Breggele Schokolädle. Dann schließe ich die Tür hinter mir zu, gehe ins Bad und mache mich für die Nacht fertig. Das ist schön.“ (Anmerkung der Redaktion: Die Kinder haben mit der Heimleitung vereinbart, dass nachts ihr Zimmer abgeschlossen werden kann, weil sie sonst nicht schlafen kann.) Auch wenn Augen und Gehör schlechter werden, die Beine beim Laufen weh tun, teilt Elfriede Lorenz ihren Tag in feste Strukturen ein. So wie sie es ein Leben lang getan hat. Das beginnt schon am Morgen, wenn sie aufsteht, ins Bad geht und sich richtet. Damit die Haare täglich gut sitzen, bringen die Kinder ihr Haarspray mit. „Das Einzige, wozu ich jemand hier brauche, ist zum Strümpfeanziehen und Zimmerputzen. Alles andere mache ich allein. Meine Kleidung suche ich selbst aus, beim Anziehen schwätzt mir keiner rein. Ich gucke ein bisschen nach den anderen hier, was die so auftragen. Die Füße schmiere ich jeden Morgen mit Pferdesalbe ein, das tut mir gut.“ Auf die obligatorische Frage, wie sie es geschafft habe, über die Jahre eine so aktive Frohnatur zu bleiben, antwortet sie pragmatisch: „Ja wie, das wird man einfach, da weiß man gar nicht warum. Ein Jahr kommt nach dem anderen. Ich habe immer gearbeitet, meine Pflicht getan, ich war immer demütig und zufrieden, komme gut mit meinen Nächsten aus und streite nicht. Geraucht habe ich nie und trinke auch keinen Alkohol, höchstens mal einen Schluck Wein. Aber ich esse täglich ein Breggele Schokolädle, das beruhigt.“ So bleibt man wohl geistig fit, nennt die körperlichen Einschränkungen lediglich „manchmal schon etwas beschwerlich“ und wird 106. Und niemand siehts ihr an.

"Ich habe immer gearbeitet, meine Pflicht getan, ich war immer demütig und zufrieden."

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