Magazin | MutMacher
Ingeborg Tadday (99)

„Der Krieg war meine Jugend“

Headerbild

Die zierliche Frau sitzt an ihrem Lieblingsplatz am Fenster im Pflegeheim Am Warenbach. Und sie ist mitten in ihren Kriegserinnerungen, vollgepackt mit Erlebnissen, mit Angst und glücklichen Umständen.

„Manche staunen, wenn ich sage, dass ich zum Nachrichtendienst eingezogen wurde. Mein erster Einsatz war Russland, von Minsk über Wilna nach Riga. Die Funknachrichten mussten wir mit Morsezeichen weitergeben. Bald kam ich nach Paris. Das war wie Milch und Honig. Hier haben wir fast nichts vom Krieg gemerkt, es gab genug zu essen. Später ging es nach Brüssel. Die Zugfahrten waren nicht schön. Oft standen wir vor kaputten Gleisen und mussten laufen. Einmal hörte ich nachts komische Geräusche. Die anderen winkten ab und schliefen weiter. Ich hatte keine Ruhe, bin aufgestanden und ohne was mitzunehmen geflüchtet. Hinterher erfuhr ich, dass das mein Glück war. Bei Nacht und Nebel war ich an der holländischen Grenze unterwegs. Ich wollte nach Leipzig zu meinen Eltern. Tagelang bin ich gelaufen und hatte Angst, erwischt zu werden. Wenn mich jemand angesprochen hat, habe ich nur gesagt: ‚Ich nix verstehen.‘ Ab und an bin ich per Anhalter gefahren und kam so bis Halle. Von dort fuhr nachts ein Zug mit Flüchtlingen nach Leipzig. Ich wartete auf die erste Straßenbahn, hatte aber kein Geld. Mein Herz pochte, als der Schaffner kam. Wieder stellte ich mich dumm. Der Schaffner guckte mich an und fragte: ‚Wie sprichst du denn, erkennst du mich nicht?‘ Er war ein Freund meines Vatis. Ich war glücklich und musste keine Angst mehr haben, wegen Feigheit vor dem Feind verurteilt zu werden. Ich habe geheiratet und wir sind später zu meiner Schwester nach Villingen gezogen. Die Ehe war nicht gut. Ich hatte immer Arbeit und beschloss, meine zwei kleinen Kinder allein durchzubringen. Und jetzt bin ich mit meinem Rolls-Royce (Rollator) hier im neuen Gebäude vom Heilig-Geist-Spital. Das neue ist schon schön. Meine Tochter hat mir ihren Puppenwagen mit der Decke und dem Kissen von ihrem Stubenwagen gebracht. Und so ist meine kleine Ruth, die ich mit drei Jahren geschenkt bekam, im Taufkleidchen meiner Enkelin auch bei mir.“

"Tagelang bin ich gelaufen und hatte Angst, erwischt zu werden."