Angst vor Multipler Sklerose – muss das sein?
Multiple Sklerose (MS) ist eine neurologische Erkrankung, die vor allem in Ländern vorkommt, die am weitesten vom Äquator weg liegen. Aktuell leben in Deutschland 280.000 MS-Erkrankte. Jährlich kommen rund 15.000 neue Fälle hinzu. Der Neurologe Dr. Klaus Demuth sieht anhand von Studienergebnissen der letzten Jahrzehnte vielversprechende Behandlungsmöglichkeiten für eine lange und gute Lebensqualität.
? Herr Dr. Demuth, was ist MS – wie es kurz genannt wird – und wo liegt die Ursache?
Bisher wird als Auslöser das Epstein-Barr-Virus diskutiert, das bei den meisten Patienten den Impuls für eine chronische Entzündung gegeben hat, die vor allem im Rückenmark und Gehirn vorkommt. Dieses Virus greift T- und B-Zellen an, die wir zur Abwehr in den Lymphknoten brauchen. Für die Akutreaktion sind die T-Zellen und für die Gedächtnisreaktionen die B-Zellen zuständig. Beide sind an der Autoimmunerkrankung beteiligt. Die Reaktion des Körpers richtet sich sozusagen gegen eigene Substanzen.
? Gibt es unterschiedliche Formen der Erkrankung?
Ja, die häufigste Verlaufsform ist schubförmig. So wird die Erkrankung meistens zum ersten Mal wahrgenommen. Die Symptome gehen in der Regel wieder zurück. In dem Fall sind alle Bewegungsmöglichkeiten wieder ungehindert vorhanden. Es kommt aber vor, dass sie nur zum Teil rückläufig sind. Die heftigste Form ist ein chronischer Verlauf.
? Bedeutet Ersteres, dass die Krankheit zwischendurch schläft?
Genau, aber die MS selbst ist immer aktiv und geht nur nach einem Schub in den Schlaf. Nimmt die Erkrankung einen chronischen Verlauf, ist sie schlechter behandelbar, denn der Zustand verschlechtert sich ohne Ruhepause zunehmend. Von vornherein chronische Verläufe sind körperlich am schlimmsten, zum Glück aber seltener. Andererseits gibt es Patienten, die im Körper Herde haben, aber keine Symptome zeigen. Das erleben wir häufig, wenn Menschen zu uns kommen, die zum ersten Mal Symptome erkannt haben. Wenn wir bei denen eine Erstdiagnose erstellen, finden wir schon viele Herde in ihrem Kopf und der Wirbelsäule.
? Welche Symptome deuten auf MS hin?
Ein sehr präsentes Thema für junge Menschen sind Sehstörungen. Im Unterschied zum Schlaganfall entwickeln sich diese langsam. Eine Sehnerventzündung macht sich in der Sehstärke erkennbar, Betroffene registrieren ein immer schlechter werdendes Sehen. Hinzu können auch Gefühlsstörungen, Lähmungen oder auch Müdigkeit und Spastik kommen. Bei MS geht das nicht von einer Sekunde auf die andere, das ist ein schleichender Prozess.
? Ist das ein gutes Zeichen, wenn die Symptome wieder weggehen?
Natürlich, nach einem Schub wird das Sehen wieder besser. Allerdings entstehen Narben in Hirn und Wirbelsäule, die nach der Entzündung kleiner werden, aber dort verbleiben. Man sollte sich unbedingt schon bei ersten Symptomen untersuchen lassen. Eine Sehstörung muss nicht zwingend eine MS sein. Wenn der Verdacht besteht, untersuchen wir das Nervenwasser und können anhand einer Kernspintomographie und dem zeitlichen Verlauf eine ziemlich sichere Diagnose stellen. Wenn notwendig machen wir zusätzlich Nervenfunktionstests. All das ist in maximal drei Tagen erledigt. Sobald wir die sichere Diagnose haben, empfehlen wir Medikamente, die das Fortschreiten der MS verlangsamen.
? Sie sprachen es bereits an: Gibt es eine Altershäufigkeit bei MS?
In der Tat befindet sich der Altersgipfel in sehr jungen Jahren im Alter zwischen 20 und 40. Das bedeutet nicht, dass nicht auch Kinder und hochbetagte Menschen erkranken können. Die Symptome sind immer gleich und erkennbar frauenlastig.
? Kann man innerhalb kurzer Zeit an MS versterben?
MS ist nicht heilbar, aber man verstirbt auch nicht kurz- oder mittelfristig daran. Es gibt schwere Verläufe, die man aber sehr effektiv mit hochwirksamen Medikamenten behandeln kann. Wichtig ist, sich rechtzeitig behandeln zu lassen, um eine lange und gute Lebensqualität zu haben. Selbstverständlich können wir auch Patienten im höheren Alter, die vorher noch keine Diagnose hatten, schützend behandeln und mit Medikamenten sinnvoll versorgen.
? Wie lange können Patienten eine gute Lebensqualität erzielen?
Heute gibt es hochwirksame Medikamente, mit denen wir unseren Patienten noch 25 Jahre einen guten körperlichen Zustand ermöglichen. Wie die Erfahrungen zeigen, können daraus auch 40 gute Jahre werden. Alles ist eine Frage der Krankheitsaktivität und des Verlaufs. Eine hochaktive Erkrankung muss man frühzeitig auch hochaktiv behandeln. Das empfehlen wir und wir diskutieren mit unseren Patienten auch Nebenwirkungen, die bei hoch dosierten Medikamenten stärker sein können. Wichtig ist, dass Erkrankte die Behandlung aktiv unterstützen. Wenn der Zustand stabil bleibt, kann man auch überlegen, wenn Kinderwunsch besteht, mit den Medikamenten zu pausieren. Es gibt eine familiäre Belastung, aber MS ist keine Erbkrankheit.
? Bedeutet das generell, dass Patienten engmaschig betreut werden sollten?
Auf jeden Fall. Jeder Neurologe sollte seine Patienten regelmäßig sehen, um den Verlauf besser beurteilen und gegebenenfalls die medikamentöse Behandlung anpassen zu können. Ein schubförmiger Verlauf kann in einen dann sekundär chronisch fortschreitenden Verlauf übergehen.
? Das klingt nach guten Botschaften, die der Angst keinen Raum geben. Sind für jeden individuelle Prognosen möglich?
Leider ein klares Nein. Die Erkrankung ist selbstständig und bis heute nicht gänzlich erforscht. Sichere Prognosen sind nicht möglich. Aber Studienergebnisse machen Hoffnung. Es gibt eine sogenannte EDSS-Skala von eins bis zehn. Das ist ein System zur Erfassung der Behinderungen von MS-Erkrankten. Entsprechend des Wertes ist erkennbar, ob eine Gangstörung vorliegt, wie viele Meter gelaufen werden können, ob der Patient arbeitsfähig ist, ob das Gehen nur mit Stock gelingt oder ein Rollstuhl noch ein aktives Leben möglich macht oder die Unterstützung einer anderen Person benötigt wird. Veränderungen der Skalenwerte zeigen uns, wie die Behandlung weiter erfolgen muss. Es ist durchaus möglich, dass Gymnastik und Physiotherapien die individuellen Skalenwerte eines Menschen verbessern. Heute zeigen Studienergebnisse, dass nach 25 Jahren 65 Prozent der MS-Patienten weiterhin gehfähig sind. Erkenntnisse aus den 80er Jahren zeigen, dass nach 15 Jahren für damals 50 Prozent der Betroffenen ein EDSS-Wert von sechs angezeigt wurde, der erhebliche Einschränkungen mit Stock bedeutete. Schaut man sich das Jahr 2010 an, beträfe das weniger als zehn Prozent der Erkrankten.
? Was geben Sie den Patienten für ihren Alltag mit an die Hand?
Auch wenn es seltsam klingt: Wichtig ist, lange arbeitsfähig und aktiv zu bleiben. Das ist die beste Reha. Dafür geben wir eine Langzeitverordnung für Krankengymnastik. Es gibt auch gute MS-Kliniken, in denen man alle zwei bis drei Jahre eine Reha mit Physiotherapie und Logopädie wahrnehmen sollte. Das betrifft auch Ältere, denn es geht nicht nur um Arbeitsfähigkeit, sondern auch um Lebensqualität.
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Dr. Klaus Demuth
Chefarzt des Zentrums für Neurologie
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