Magazin | MutMacher
Ilse Beyer (98)

»Alexa verbindet mich mit meinem Sohn, egal wo er auf der Welt ist«

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»In meinem Zimmer gehören die Bilder für mich zu den schönen Erinnerungen. Leider ist mein Mann Günther schon vor elf Jahren verstorben.«

Bis vor zwei Jahren konnte Ilse Beyer ihren Alltag mühelos allein bewältigen. Das änderte sich, als sich ihre Sehkraft immer schneller verschlechterte. Sie musste das Kochen aufgeben. Einstellungen am Elektroherd waren für sie nicht mehr gut erkennbar. Zunehmend wurde ihr das Alleinleben immer riskanter und unsicherer.

»Körperlich geht es mir gut. Ich habe – fast möchte ich sagen – nur weißen Hautkrebs und den grünen Star, der mich unsicher werden lässt, vor allem beim Gehen. Ich könnte mich noch gut ohne Rollator durchs Leben bewegen, wenn die Augen mitmachen würden. Geboren bin ich 1925 in Chemnitz. Ein Rezept zum Älterwerden habe ich nicht. Das hat man nicht selbst in der Hand. Ich habe mich viel bewegt, was mir sicher gutgetan hat. Bis vor zwei Jahren war ich aktiv in der Frauengymnastikgruppe im Turnverein Villingen. Zu gern wäre ich Handarbeitslehrerin geworden. Ich hatte sogar ein Stipendium von der Schule dafür bekommen. Nach der Volksschule hätte meine Ausbildung am ersten September 1939 beginnen sollen. Genau an dem Tag begann der Krieg. Meine Eltern hatten eine Metzgerei, und mein Vater musste am dritten Mobilmachungstag eintreffen und konnte nicht mehr im Geschäft arbeiten. Mutter war mit uns drei Kindern allein. Da konnte ich nicht weg, das verbot sich von selbst. Ich war 14 und die Älteste. Also blieb ich daheim und half in der Metzgerei. Meine Schwester war fünf und mein Bruder 13 Jahre alt. Nicht mal seine Metzgerlehre konnte er beenden, so früh musste er in den Krieg. Er kam zuerst zum Holzfällen ins Erzgebirge. Dann ging es nach Berlin und von da ins damalige Kurland. Er schrieb uns noch, dass sie mit dem Schiff abgeholt wurden. Als das Schiff anlegte und alle von Bord gingen, wurden sie erschossen. Das waren harte Zeiten. So was bleibt im Kopf, das prägt einen. Wenn ich an die Kindheit zu Hause denke, war Disziplin selbstverständlich, aber ohne Drill. Es galt das erste Wort und nichts musste zehn Mal gesagt werden. Das war kein Kadavergehorsam. Wir wurden schon früh zur Selbstständigkeit erzogen. Es war selbstverständlich, dass wir unseren Eltern verpflichtet und die wiederum uns verpflichtet waren. Gegenseitig bestand absolutes Vertrauen. Auch wenn uns manchmal was nicht gepasst hat.

»Es gab viel Schönes in meinem Leben, aber auch viel Trauriges durch den Krieg

Mein Mann kam auch aus Chemnitz. Nach der Schlosserlehre wollte er zum Studium und Ingenieur werden. Dazu kam es nicht, er musste zum Militär in den Krieg. Mit 26 Jahren kam er zurück. Ein Studium an einer Hochschule bekam er nicht. Dazu hätte er damals in Ostdeutschland in die Partei eintreten müssen. Das wollte er nicht. Seinen Abschluss zum Konstrukteur machte er in einer Abendschule. Und dann wollte die Partei meinen Mann zum Spitzel machen. Ich vergesse den Satz nie: › Glauben Sie ja nicht, dass Sie abhauen können, sie werden beobachtet.‹ Das war eine sehr bewegte und schlimme Zeit. Mein Mann hatte eine Schwester, die bereits mit ihrem Mann nach Wendlingen gezogen war. Unser Schwager hat Kontakte aufgenommen und meinen Mann mit Adressen versorgt. Mitte der fünfziger Jahre sind wir in Villingen angekommen und mein Mann konnte als Ingenieur bei Kienzle Apparate anfangen. Ein Jahr später kam unser Claus zur Welt. Es war für uns nicht schwer, hier heimisch zu werden. Beide haben wir uns im Turnverein Villingen eingebracht. Noch heute habe ich gute Kontakte zu den Frauen unserer Gymnastikgruppe. Inzwischen sind wir fast alle alte Schachteln. Einige besuchen mich, und wir pflegen einen Stammtisch im Goldenbühl beim Hilsenbeck. Noch im letzten Jahr bin ich mit einer Turnkameradin mit dem Bus zum Treffen gefahren. Leider ist sie nicht mehr gesund und ich muss jetzt mal schauen, wie ich allein dahin komme. Was mir Mut macht, wenn es mal nicht so gut läuft? Da habe ich nur einen Spruch: Da musst du durch. Alles andere hilft doch nichts.
Vor elf Jahren ist mein Mann gestorben und seit zwei Jahren wohne ich hier im Heilig-Geist-Spital am Warenbach. Mit meinen Augen wird es immer schlimmer, das macht mich unsicher und vorsichtiger. Wie gern würde ich heute noch kochen und Weihnachten eine Gans braten, auf die sich meine Jungs, also mein Mann, unser Sohn und die zwei erwachsenen Enkel, immer gefreut haben. Unser Sohn ist viel in der Welt herumgekommen, aktuell arbeitet er in den USA und lebt für seinen Beruf. Mir hat er Alexa geschenkt und so eingerichtet, dass ich ihn mühelos überall auf der Welt anrufen kann, egal wo er ist. Und ich verstehe alles klar und deutlich. Das ist toll und beruhigt mich sehr. Er hat an alles gedacht, was mir mein Leben und meine Kontakte erleichtert. Ein handgeschriebenes großes Telefonbuch, in dem ich meine wichtigen Kontaktdaten schnell finde und gut umblättern kann. Mein Radio ist so eingestellt, dass ich nur auf Knöpfe drücken muss, wenn ich Nachrichten oder meine Wunschmusik hören will. Claus ist zwar oft und manchmal länger weit weg, aber er lebt für seinen Beruf, und ich bin sehr stolz auf ihn und die beiden Enkel. Hier im Haus habe ich schon schöne Feiern erlebt, besonders die Weihnachtsfeier war richtig nett gemacht. Ich mache eigentlich alles mit, was angeboten wird, Bewegung auf dem Stuhl, Gedächtnistraining oder unsere regelmäßige Zeitungsschau. Es gibt immer Anregungen und viele Dinge, die mir auch den Alltag erleichtern. Meine Familie hat mir eine große Kerze mit Batterie geschenkt. Ich würde im Zimmer niemals eine echte Kerze anzünden, das ist sicher auch gar nicht erlaubt. Aber diese Kerze ist toll. An Weihnachten haben mir die Jungs einen großen Stern aufgehängt, an dem ich jeden Abend, wenn es dunkel wurde, Licht anschalten konnte. Alles geht mit Batterien und ohne Gefahr. Das gefällt mir, da kann nichts passieren.
Was mich ärgert? Wenn jemand nur negativ eingestellt ist, keinen Dank findet, über alles meckert und selber auch nicht alles richtig macht.
ist einfach, aber besser machen oft nicht. Wenn was nicht klappt, sind dann immer andere schuld. Von solchen Menschen distanziere ich mich.«

»Schimpfen ist einfach, aber besser machen oft nicht. Wenn was nicht klappt, sind dann immer andere schuld. Von solchen Menschen distanziere ich mich.«

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»Das sind meine Gymnastikfrauen beim Stammtisch. Mit meinem Lesegerät kann ich mich auf der linken Seite sogar gut erkennen.«