Magazin | MutMacher
Volker Scharpf (57)

„Würde ich hadern ginge es mir schlecht“

„Vor zwei Jahren – exakt an meinem 55. Geburtstag – bin ich nach drei Monaten Krankenhaus ins AWO Seniorenzentrum Am Stadtpark eingezogen. Ich war Vertriebsleiter und täglich von Termin zu Termin unterwegs. An erster Stelle stand meine Arbeit, ich hielt mich für unersetzbar. Schleichend bekam ich gesundheitliche Probleme, nahm mir aber keine Zeit für einen Arztbesuch. Dann passierte es: Ich hatte einen Darmbruch und fiel ins Koma. Bei meiner Verlegung in die AWO dachte ich nur an eine Kurzzeitpflege. Doch die Ärztin sprach von einem langen Weg. Das zu verstehen und anzunehmen, ist erst mal schwer. Ich lebte in Dauchingen allein und wollte unbedingt in meine Heimatstadt Stuttgart zurück. Das war unmöglich und langsam begriff ich die Schwere meiner Krankheit. Durch den Darmbruch bekam ich eine Blutvergiftung, die bereits alle Organe geschädigt hatte. Die ersten vier Wochen im Heim waren hart. Aber heute muss ich sagen, es ist eine gute Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

Ich nehme mich nicht mehr so wichtig
Wenn ich hier im Heim die Bewohner sehe, geht es mir bis auf die Schmerzen doch gut. Menschen mit Demenz oder Handicap leben schlechter. Auch ich schließe ab und zu meine Tür und dann darf auch eine Träne fließen. Doch ich habe viel gelernt von den Bewohnern. Man muss sich auf sie einstellen, dann kommt man mit jedem ins Gespräch. Es gibt nichts Schöneres, als plötzlich ein Lächeln zu sehen.
Würde ich mit meinem Schicksal hadern, geht’s doch nur einem schlecht, und das bin ich selbst. Jetzt nehme ich mir Zeit für Menschen und spüre auch zum ersten Mal den Geruch der Natur. Dafür habe ich mir früher keine Zeit genommen. Es ist unvorstellbar, wie sich das Personal in der AWO engagiert. Das fängt beim Hausmeister an, geht über die Küchenmitarbeiter bis hin zu den Pflegekräften. Jetzt ist das meine zweite Familie. Ich bin im AWO-Heimbeirat und versuche, den Menschen Mut zu machen. Für alle sind die ersten vier Wochen schlimm. Im Gespräch sage ich den Neuen, besonders auch in der Kurzzeitpflege, dass sie niemand abgeschoben hat. Hier werden sie im Alltag unterstützt und wunderbar gepflegt. Oft höre ich, dass man mir meine Krankheit nicht ansieht. Dann frage ich mich, wie muss man denn mit Schmerzen aussehen? Die Leute haben ein Bild im Kopf von Menschen mit Handicap.

Das Wort Behinderung sage ich ungern
Mir selbst ist passiert, dass Heimbesucher mir gegenüber plötzlich in die Kindersprache verfallen: ‚Ja esse mer heute ein Ei-le.‘ Dann habe ich gefragt, wann der nächste Bus nach Bochum geht. Da geht ein Ruck durch den anderen. Ich bin auf den Rollator angewiesen, er ist ein Teil von mir. Wenn ich unterwegs bin, springen die Leute zur Seite. Laufe ich ein paar Schritte ohne Rollator, starren sie mich an. Im Gespräch versuche ich, die Situation normal zu nehmen. Ich habe auch kein Problem, wenn mir ein Pfleger die Schuhe anzieht oder eine Pflegerin die Socken. Das ist eben jetzt mein Leben.
Unangenehm ist, wenn mir was runterfällt, vielleicht sogar mein Taschentuch, und ich die Pflegekräfte bitten muss. Dafür habe ich jetzt eine Greifzange. Man wird findig im Suchen nach Hilfe. Als ich mal lange auf einen Schlüssel für die Behindertentoilette warten musste, habe ich im Internet nach einer Lösung gesucht. Es gibt eine Darmstädter Firma, die Einheitsschlüssel für öffentliche Behindertentoiletten anbietet – den Euro-WC-Schlüssel. Ich musste die Kopie des Behindertenausweises und eine Bestätigung vom Arzt hinschicken, dann konnte ich dort den Schlüssel kaufen. Das macht frei und unabhängig, auch wenn ich mein monatliches Geld sehr zusammenhalten und mir jede kleine Ausgabe überlegen muss. Wichtig für mein Leben ist meine Familie und besonders meine Schwester Margit, die mich in der schweren Zeit bis heute sehr unterstützt haben. Ihnen verdanke ich auch, dass ich einen persönlichen Plan machen kann: In zirka einem Jahr will ich wieder allein leben können. Darauf arbeite ich hin.“

WEITERE INFORMATIONEN
Beim CBF Darmstadt (www.cbf-da.de) kann man als Behinderter einen Euro-WC-Schlüssel kaufen. Er öffnet europaweit 12.000 Einheitsschlösser für öffentliche Behindertentoiletten.
Kontakt: CBF Darmstadt e.V., Pallaswiesenstraße 123 a,
64293 Darmstadt