Magazin | Einblicke
Lebensqualität ist nicht nur medizinische Versorgung

Menschen Ruhe für die letzten Stunden geben

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Sabrina Reithmeier unterwegs zu ihren Patienten, die palliativ von ihr versorgt werden.

Vor zwei Jahren pflegte Sabrina Reithmeier mit Mama und Schwester ihren schwerkranken Papa zu Hause. Schon als Kind gab es für sie nur ein Berufsziel: Krankenschwester. Auch eine Nachbarin, die aus eigener Erfahrung von Nachtdiensten, Wochenendarbeit und ständiger Einsatzbereitschaft erzählte, konnte ihren Wunsch nicht erschüttern. Bis vor einem Jahr arbeitete sie als Stationsleiterin. Die Erfahrungen bei der Pflege ihres schwerkranken Papas gemeinsam mit professioneller Unterstützung vom Palliativnetzwerk Tuttlingen hat ihr Leben verändert. Auf der Rückfahrt von einer Neuaufnahme bei einem Schwerstkranken erzählt sie ihren Neubeginn.

„Bei der Versorgung unseres Papas waren wir sehr dankbar, dass wir Tag und Nacht eine Mitarbeiterin vom Palliativnetz anrufen konnten, wenn es Probleme gab und wir nicht mehr weiterwussten. Für uns waren das nicht nur die medizinische Versorgung in seinen schwersten Tagen, sondern auch die Gespräche und eine große Vertrautheit. Als Papa verstorben war, haben wir uns persönlich noch mal bedankt. Dann kam der Zufall und alles ging sehr schnell. Die Leiterin der Spezialisierten Ambulanten Palliativ-Versorgung (SAPV) suchte eine Mitarbeiterin. Bis dahin hatte ich nicht an einen Berufswechsel gedacht, obwohl ich in meinem Job unzufrieden war, weil ich mir mehr Zeit für den Umgang mit Kranken wünschte. Plötzlich war mir mein Weg klar. Ich bekam die Stelle, das war mein Glücksfall. Durch das Erlebnis mit meinem Papa verstehe ich, wie hilflos sich Angehörige fühlen. Natürlich nimmt man auch mal einen ‚Problemrucksack‘ mit heim, besonders wenn es junge Patienten betrifft. Aber in unserem Team gibt es einen regen Austausch untereinander. Das tut gut, entweder findet man eine Bestätigung oder bekommt Ideen und Impulse, was man für den Patienten noch verbessern könnte. Dabei geht es nicht nur um die medizinische Versorgung, sondern auch um den zwischenmenschlichen Bereich. In der kurzen Zeit habe ich viel gelernt. Jeder Fall ist eine neue Situation, medizinisch und familiär. So wie heute bei der Familie, die dringend Hilfe suchte. Zuerst versuche ich immer, behutsam die Situation zu erfassen. Oft habe ich am Beginn noch das Gefühl, als wollte ich etwas verkaufen. Man geht in ein fremdes Haus zu fremden Menschen und spricht über eine intime Situation, über das Kranksein oder Sterben. Es ist immer die Balance, auf Augenhöhe miteinander zu sprechen und einen passenden Übergang zu finden, damit die Kranken und auch die Angehörigen Vertrauen fassen können. Häufig erlebe ich, dass die Leute nicht die Wahrheit über den Zustand des Kranken wissen, aber innerlich spüren. Heute war so ein Tag, die Familie war skeptisch. Ich habe versucht, ausführlich zu erklären, wie wir arbeiten und was wir bewirken können, ohne sie in Entscheidungen zu bevormunden.

„Ziele bewirken manchmal Wunder“

Wichtig war, dass sie erzählen, was dem Kranken gut tut, was sie sich wünschen und ob es Ziele gibt. Heute war der Wunsch, die Geburt des ersten Enkels noch erleben zu dürfen. Aber wir versprechen nichts, so viel Ehrlichkeit müssen wir zueinander aufbauen. Und man muss im Auge behalten, dass die Angehörigen auch Betroffene sind und die Sicherheit bekommen, dass wir jederzeit für sie da sind, auch nachts und am Wochenende. Am Schluss hat die Tochter geweint, mich in den Arm genommen und mir gesagt, dass sie froh ist, dass ihr jemand zugehört hat. Ich war erleichtert, das Vertrauen war hergestellt und jetzt können wir gemeinsam gut miteinander den Patienten durch eine schwierige Zeit begleiten. Das Schöne an meiner Arbeit ist, ich darf mir Zeit nehmen. In unserem Unternehmen wird diese Zeit gegeben. Zu den Hausbesuchen gehört nicht nur die palliative Versorgung. Schritt für Schritt klären wir auch über die Symptome auf, die sichtbar werden können, damit die Leute keine Panik bekommen, wenn Atemnot auftritt oder auf der Haut Marmorierungen auftreten, wenn der Sterbeprozess beginnt. Von unserem Team bekomme ich Hilfe angeboten, wenn die Arbeit weit über das normale Maß hinausgeht. Wenn ich jetzt ins Büro komme, wartet ein Berg Papierkram auf mich, Antrag für die Genehmigung der Krankenkasse schreiben, Formulare ausfüllen, Pflegedienst und andere beteiligte Dienste informieren. Das Gute ist, wir müssen das Genehmigungsverfahren der Kassen nicht abwarten, sondern dürfen, wenn wir die Situation als ernst einschätzen, sofort agieren. Die Kassen wissen, dass wir bei der Erstberatung
genau hinschauen. Wenn wir der Meinung sind, dass unser Einsatz noch nicht erforderlich ist, sagen wir das auch den Patienten. Gleichzeitig bieten wir an, dass wir bei einer Verschlechterung sofort in die Versorgung mit einsteigen können.
Nach der Arbeit abzuschalten ist manchmal sehr schwer. Vieles kann ich mit meiner Schwester besprechen. Und mein kleiner Sohn und mein Mann geben mir Lebensfreude. Aber auch die Menschen, die ich betreuen darf, geben viel zurück. Ich lerne sehr viel und erlebe viele lebenskluge Gespräche. Geld und Haus spielen eigentlich keine Rolle. Ich habe gelernt, dass Zeit kostbar ist und ich genieße es jetzt noch mehr, wenn mein kleiner Sohn in der Nacht wieder in mein Bett schleicht.“

"Meine Arbeit ist ein Glücksfall für mich."

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Zu Hause hilft ihr die Familie, mal abzuschalten und fröhliche Gedanken zuzulassen.
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"Ich genieße es auch, wenn mein kleiner Sohn in der Nacht wieder in mein Bett schleicht.“